2085 – eine kleine Utopie

Es ist schon viele Jahre her, dass ich darüber nachgedacht habe, wie das damals war.
Wie Toilettenpapier rationiert und von Lehrkräften ausgegeben wurde, aus Angst vor Vandalismus. Obwohl ohnehin eigentlich niemand freiwillig diese trostlosen Schultoiletten betreten hat, in denen der Gestank von Urin und Zigarettenrauch in der Luft lag und man immer ein bisschen Angst hatte, sich dort etwas einzufangen. Stattdessen hielten Schüler:innen lieber ein, tranken den ganzen Schultag nichts, um bloß nicht diese ekelhaft stinkenden und dreckigen Räume aufsuchen zu müssen.
Wie bis weit ins 21. Jahrhundert hinein Overheadprojektoren fester Bestandteil von Schulgebäuden waren, diese monströsen Apparate aus einer anderen Zeit, die knisternd ihre heißen Lichtstrahlen auf zerkratzte Folien warfen. Sie gehörten dazu, so selbstverständlich wie Schultafeln, wie Pausenklingeln und Kreidestaub an schwitzigen Händen.
Wie für Kinder im Alter von neun Jahren entschieden wurde, ob sie es in dem Bildungssystem zu etwas bringen, oder nicht. Das hing damals nicht etwa von ihrer Leistung, ihren Fähigkeiten oder ihrem Engagement ab, sondern vielmehr von ihrem Vornamen, ihrer Angepasstheit, ihrem Geburtsland oder dem sozialen Status ihrer Eltern.
Wie Schüler*innen im Winter bibbernd und mit dicker Jacke in Klassenzimmern saßen, weil Fenster sich nicht mehr schließen ließen, kaputte Heizungen seit Monaten auf Reparatur warteten und sich die verantwortlichen mit Sätzen wie: „Dann macht doch Hampelmänner oder klatscht in die Hände“ der Verantwortung entzogen. Es sei kein Geld da, hieß es immer.
Ich erinnere mich auch daran, wie hin- und hergerissen ich im Studium war. Ich wollte so sehr Lehrerin werden. Ich liebte die Arbeit mit Kindern. Aber gleichzeitig hatte ich diese beklemmende Angst. Angst davor, mich in diesem System aufzureiben, mich zu verlieren, verschluckt zu werden und irgendwann ausgebrannt und desillusioniert wieder ausgespuckt zu werden.
Ich erinnere mich an das faktische Zweiklassensystem der Lehrkräfte. Die einen, verbeamtet, unantastbar, unkündbar, geschützt vor jeglicher Qualitätsprüfung — es sei denn sie machten sich beim Schulamt unbeliebt. Und die anderen, jene, die für die gleiche Arbeit nur die Hälfte verdienten. Jene, die ihre Freiheit behalten wollten oder vom Amtsarzt abgelehnt wurden. Zwei Klassen, ein System, das sich Schule nannte. Und stell dir vor, es gab eine Zeit, in der eine einzelne Lehrkraft vor bis zu 35 Kindern stand, allein, nur sie und die Schüler:innen. Sie stand wortwörtlich vor ihnen, erklärte ihnen die Welt. Das nannte man Frontalunterricht. Ja, selbst Musikunterricht wurde frontal erteilt.

Doch das ist inzwischen viele Jahre her.

Der Wandel kam erst, als das Schulsystem völlig zusammenbrach. Unter dem Gewicht von Lehrkräftemangel, Investitionsstau und der wachsenden Wut derer, die sich nicht mehr kleinreden ließen. Eltern, Aktivist:innen, Studierende, Lehrkräfte – Millionen gingen auf die Straße. Es waren Proteste, wie sie das Land für Bildung noch nie gesehen hatte. Und plötzlich musste die Politik handeln. Niemand konnte mehr die Augen vor dem verschließen, was sich seit Jahrzehnten vor uns allen abspielte.
Ein paar Jahre lang ging dann im Bildungssystem wirklich nichts mehr. Einige Jahre lang ging gar nichts mehr. Es war, als stünde die Zeit still, fast so wie in den ersten Pandemiejahren in den 20er Jahren. Doch genau in dieser in dieser Zeit war der Wille da etwas Neues zu gestalten. Mutige, visionäre Menschen setzten sich zusammen und bauten mit Entscheidungspersonen das System radikal um.
Der Föderalismus wurde abgeschafft, ein europäisches Bildungssystem geformt. Nicht halbherzig, nicht mit leeren Versprechen, sondern mit echtem Geld, mit echtem Willen, mit echter Veränderung.
Das mehrgliedrige Schulsystem? Geschichte. Stattdessen entstanden Bildungszentren – Orte, an alle Menschen vom Kindergarten bis zum Berufskolleg lernen konnten, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen. Ein fließender Bildungsweg, geprägt von Förderung statt Selektion.
Die Bildung bekam, was sie brauchte, um standhaft und flexibel auf wichtige Belange eingehen zu können: multiprofessionelle Teams, Fachkräfte für IT und Organisation, Therapeut:innen, Bibliotheken und Freizeitangebote. Die Räume werden nicht nur klassischen Unterricht genutzt. Am Wochenende werden sie für die Gemeinschaft geöffnet, für Veranstaltungen, für Kultur, für Begegnung. Lernen ist nicht länger ein isolierter Prozess, sondern eingebettet in das Leben und in die Gesellschaft.
Die Bildungszentren arbeiten eng mit den Universitäten zusammen und das nicht nur, weil das Lehramtsstudium inzwischen ein Duales Studium ist und angehende Lehrkräfte von Tag 1 ihres Studiums an eine Schule fester Teil des Teams sind. Auch neue Forschungsansätze werden in Schulen getestet, eng wissenschaftlich begleitet und bei positiven Ergebnissen auf regelmäßigen Tagungen mit allen Schulen geteilt. Der Beamtenstatus wurde endlich abgeschafft und die Gehälter für alle Lehrkräfte auf ein gleiches Level angehoben. Im Unterricht gab es keine Schubladen mehr, keine Starren Fächer. Stattdessen wurde themenbasiertes, kompetenzübergreifendes Lernen etabliert — mit den Global Goals als Fundament.
Ich könnte noch so viel mehr erzählen. Ich könnte euch von den Errungenschaften der letzten Jahrzehnte berichten. Davon, wie wir Bildung nicht mehr als Last, sondern als Privileg begreifen. Wie wir endlich aufhörten, sie als Kostenfaktor zu sehen, sondern als das, was sie ist: unsere Zukunft.
Hätte ich vor 60 Jahren gesagt, dass unser Bildungssystem im Jahr 2085 so aussehen würde, wäre ich nur müde belächelt worden. Heute kann ich selbst mir ein glückliches lächeln nicht verkneifen, wenn ich an das Bildungssystem denke.

Anmerkung: Ich wurde von der Bildungsstätte Anne Frank zu dem Schreiben dieses Textes inspiriert. Sie haben gerade ein Schreibwettbewerb am Laufen, wo Texte zu Zukunftsvisionen geschrieben werden sollen. Schaut gerne mal auf Instagram bei denen vorbei und schreibt vielleicht eure eigenen Zukunftsvisionen auf.

2 Gedanken zu „2085 – eine kleine Utopie

  1. Ein sehr schöner Beitrag! Bei der Beschreibung vom „OHP“, wie er bei uns immer abgekürzt wurde, den Kreidetafeln und Schulklingel kommen bei mir direkt viele Erinnerungen hoch. Ich hab sofort den Geruch von meinem alten Klassenzimmer in der Nase und höre die Schulglocke schrill in meinem Ohr. Viele Erinnerungen, die mich persönlich fast sentimental werden lassen, da sie mit Freundschaften und einer sehr prägenden Zeit verbunden sind. Allerdings blicke ich auch aus einer sehr privilegierten Sichtweise, da ich Glück hatte und vom Bildungssystem nicht diskriminiert wurde. Alle Fehlkonzepte, die Du im aktuellen Bildungssystem beschreibst, sind so fatal und bei der Zukunftsvision kann ich mich nur hoffnungsvoll anschließen. Besonders treffend finde ich die Aussage „Bildung nicht mehr als Last, sondern als Privileg begreifen.“ Ich glaube, wenn wir das hinbekommen und Freude am Lernen für alle vermitteln sind wir auf einem richtig guten Weg.

    1. Hallo Matthis, vielen Dank für deine Nachricht. Die Nostalgie, die du beschreibst, kann ich auf jeden Fall nachempfinden. Ich finde es total schön, wie hoffnungsvoll du auch in die Zukunft blickst. Das ist gerade in unsicheren Zeiten, wie wir sie heute haben so wichtig!

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