Wir haben das Jahr 2025 und noch immer sind wir weit davon entfernt in einer gleichberechtigten Gesellschaft zu leben. Zwar heißt es in Artikel 3 des Grundgesetzes „Männer und Frauen sind gleichberechtigt, doch in der Realität sieht das bis heute anders aus. Die britische Autorin Caroline Criado Perez beschreibt in ihrem Buch Invisible Women, wie tief verwurzelt die strukturelle Unsichtbarkeit von Frauen ist und warum die Welt, in der wir leben, vor allem von Männern für Männer gemacht wurde.
Einer der zentralen Punkte von Invisible Women ist die Tatsache, dass Männer in unserer Gesellschaft als der „Standard“ gelten. Männliche Erfahrungen, Bedürfnisse und Perspektiven sind die Norm, während weibliche Perspektiven oft als Sonderfall behandelt oder gar nicht erst berücksichtigt werden. Ein Beispiel dafür ist das Design von Sicherheitsgurten in Autos: Sie werden in der Regel an männlichen Durchschnittskörpern getestet, wodurch Frauen bei Autounfällen ein höheres Verletzungsrisiko haben.
Die strukturelle Bevorzugung von Männern zeigt sich auch in der Stadtplanung. Männer pendeln weltweit überwiegend mit dem Auto zwischen Wohnort und Arbeitsplatz. Frauen hingegen nutzen öfter den öffentlichen Nahverkehr, gehen zu Fuß oder fahren Fahrrad. Zudem sind ihre Wege komplexer: Sie machen mehr Zwischenstopps, etwa um Kinder abzuholen, einzukaufen oder ärztliche Termine wahrzunehmen. Trotzdem ist der öffentliche Verkehr oft auf den klassischen Pendelverkehr ausgelegt, was Frauen das Leben zusätzlich erschwert.
Frauen sind nicht nur im physischen Raum unterrepräsentiert, sondern auch in der Kultur. Studien zeigen zum Beispiel, dass Männer in Filmen nicht nur häufiger vorkommen, sondern auch zwei- bis dreimal so viel Text haben wie Frauen. Außerdem fehlen Frauen in der symbolischen Darstellung: Sie sind selten auf Banknoten, Statuen oder anderen repräsentativen Elementen des öffentlichen Raums zu finden. Selbst in der Sprache ist diese Verzerrung spürbar: Bei vermeidlich genderneutralen Begriffen, wie „Arzt“ oder „Professor“ denken die meisten Menschen an einen Mann. Diese sprachliche und kulturelle Prägung beginnt bereits in der Kindheit. Mit welchen Spielsachen dürfen die Kinder spielen? Welche Geschichten bekommen sie vorgelesen? Die Antworten darauf beeinflussen die Vorstellungen von Geschlechterrollen nachhaltig. Untersuchungen zeigen, dass Kinder bis fünf Jahren noch keine ausgeprägten Geschlechter-Vorurteile haben, diese sich aber mit dem Schuleintritt verstärken und bis ins Jugendalter festigen.
Ein weiteres zentrales Thema ist der sogenannte Mental Load: Frauen tragen oft die Hauptverantwortung für die Organisation des Familienlebens, selbst wenn sie berufstätig sind. Sie planen Arztbesuche, erinnern an Geburtstage, koordinieren Freizeitaktivitäten der Kinder – all das bleibt unsichtbar, ist aber essenziell für das Funktionieren des Alltags. Viele Männer erkennen diesen unsichtbaren Arbeitsaufwand nicht, wodurch die Last ungleich verteilt bleibt.
Invisible Women ist ein sehr lehrreiches Buch, das unzählige Beispiele für die strukturelle Benachteiligung von Frauen weltweit liefert. Die Fülle an Daten und Fakten ist beeindruckend, kann aber zugleich überwältigend sein. Zum Teil wirkt es, als würden die einzelnen Studien und Belege ohne viel Pause aneinandergereiht, was das Lesen anstrengend machen kann. Trotz dieser Dichte bleibt die Botschaft klar: Die Welt wurde für Männer gemacht. Die gute Nachricht ist: Bewusstsein ist der erste Schritt zur Veränderung. Invisible Women zeigt, dass die gesellschaftlichen und sozialen Strukturen historisch aus einer rein männlichen Perspektive heraus gewachsen sind. Die Welt ist für Männer gemacht – aber das bedeutet nicht, dass sie so bleiben muss. Indem wir die unsichtbaren Barrieren sichtbar machen, können wir eine gerechtere Zukunft gestalten. Invisible Women ist ein Weckruf, der hoffentlich nicht ungehört bleibt. Und wie haben schon Die Ärzte gesungen: Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist, es wär nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.