Die sogenannte „Hattie-Studie“, die eigentlich unter dem Titel „Visible Learning“ veröffentlicht wurde, ist seit Beginn meines Studiums immer wieder in verschiedenen Kontexten aufgetaucht. Ich habe lange nicht verstanden, warum so viel über diese Studie gesprochen wird und was so bedeutend an ihr ist. Es ist halt eine Meta-Analyse, na und? Doch mit der Zeit fing ich an zu verstehen, was John Hattie da in 15 Jahren Forschung zusammengetragen hat und wie seine Erkenntnisse eigentlich ein Anstoß für eine Bildungsrevolution hätten sein müssen.
Zur Einordnung: John Hattie, Professor für Erziehungswissenschaften an der University of Melbourne hat über 15 Jahre lang 50.000 (!) quantitative Studien, in Metastudien durchforstet, auf der Suche nach den Faktoren guten Unterrichts. Das Forschungsinteresse liegt dabei speziell auf den Leistungen der Schüler*innen, was wichtig für die Betrachtung der Ergebnisse ist. Außerdem ist es nicht unbedeutend, dass Hattie aussschließlich quantitative Studien berücksichtigt hat, die vor allem in englischsprachigen Ländern durchgeführt wurden.
Hattie hat sechs Domänen herausgearbeitet, die einen Einfluss auf guten Unterricht haben: Die Lerner*innen, das Elternhaus, die Schule, die Lehrperson, die Curricula und das Unterrichten. Hattie hat analysiert, dass die Lehrperson dabei den größten Einfluss hat, was jedoch nicht heißt, dass die anderen Bereiche unwichtig seien, denn insgesamt ist es viel mehr ein Zusammenspiel aus allen sechs Domänen, welches zu gutem Unterricht und zu guten schulischen Leistungen führt.
Eine der zentralen Erkenntnisse aus Hatties Forschung ist die Bedeutung der Lehrkraft im Lernprozess. Obwohl Hattie die Interaktion aller sechs Domänen betont, zeigt sich, dass die Lehrperson den größten Einfluss auf den Lernerfolg der Schüler*innen hat. Doch was genau macht eine Lehrkraft zu einer „exzellenten Lehrkraft“? Hierbei spielen, laut Hattie, mehrere Faktoren eine Rolle, in der Studie ausführlich beleuchtet werden.
Zunächst einmal ist es von entscheidender Bedeutung, dass Lehrkräfte ein klares Verständnis davon haben, was die Lernziele sind und wann ihre Schüler*innen diese erreicht haben. Dieses Bewusstsein ermöglicht es ihnen, den Lernprozess gezielt zu steuern und rechtzeitig zu intervenieren, wenn dies notwendig ist. Gleichzeitig müssen sie ein tiefes Verständnis der Vorerfahrungen ihrer Schüler*innen haben, um den Unterricht an deren Bedürfnisse anpassen zu können. Eine weitere zentrale Komponente ist das Wissen der Lehrkraft über den Stoff. Nur wer selbst tiefgehende Kenntnisse über die Materie besitzt, kann Lernenden sinnvolle und anspruchsvolle Lerngelegenheiten bieten. Es reicht jedoch nicht aus, den Stoff zu beherrschen; exzellente Lehrkräfte müssen auch wissen, wann es an der Zeit ist, sich zurückzuziehen und den Lernenden Raum zu geben, sich selbstständig dem Lernziel zu nähern. Das Verständnis funktionierender Lernstrategien ist ebenfalls entscheidend. Lehrkräfte müssen wissen, welche Methoden für ihre Schüler*innen am effektivsten sind und wie sie diese gezielt einsetzen können. Hierzu gehört auch, aus Fehlern und dem Feedback, das sich daraus ergibt, zu lernen. Hattie betont, dass das Lernen aus Fehlern eines der wirkungsvollsten Elemente im Lernprozess ist. Neben diesen fachlichen Kompetenzen spielt die Leidenschaft der Lehrkraft eine zentrale Rolle. Eine Lehrkraft, die selbst für den Stoff brennt, kann diese Begeisterung oft auf ihre Schüler*innen übertragen. Dabei ist es wichtig, dass die Lehrkraft den Schüler*innen eine zugewandte Haltung zeigt und ihre eigene Lernbereitschaft offenlegt. Lernen erfordert Mut und die Bereitschaft, sich auf Herausforderungen einzulassen. Wenn Lehrkräfte diese Haltung vorleben, motivieren sie ihre Schüler*innen, es ihnen gleichzutun. Ein weiterer wesentlicher Aspekt „exzellenten Lehrens“ ist die absichtsvolle Intervention. Alle Maßnahmen im Unterricht sollten das Ziel haben, das Lehren und Lernen zu verbessern. Lehrkräfte, die sich kontinuierlich in Bezug auf ihre eigenen Effekte hinterfragen und sich selbst als Lernende sehen, haben, laut Hattie, den größten Einfluss auf die Lernleistung ihrer Schüler*innen. Diese Reflexionsfähigkeit ermöglicht es ihnen, den Unterricht ständig zu optimieren und den Lernprozess sichtbar zu machen. Das Konzept des exzellenten Lehrens umfasst außerdem den geplanten und absichtsvollen Transfer von Erfahrungen, Wissen und getroffenen Entscheidungen auf zukünftige Lernprozesse. Es geht darum, schwierige und spezifische Ziele zu setzen, die den Lernenden klar sind, und den Umfang und die Qualität des Feedbacks zu verstärken. Dies fördert nicht nur das Lernen aus Erfahrungen, sondern macht den gesamten Lernprozess für alle Beteiligten transparenter und nachvollziehbarer.
Lehren und Lernen sind komplexe Prozesse, die viele Fähigkeiten und viel Wissen erfordern. Lehrkräfte müssen in der Lage sein, richtiges von falschem Lernverhalten zu unterscheiden, zwischen Experimentieren und aus Erfahrung lernen abzuwägen, und alternative Lernstrategien auszuprobieren, wenn andere nicht funktionieren. Je mehr die Lehrkraft selbst zur Lernenden wird, desto ertragreicher sind die Ergebnisse – sowohl für die Lehrenden als auch für die Lernenden. Das Ziel ist eine Kombination aus lehrer*innen- und schüler*innenzentriertem Lernen, bei dem die Verantwortung für den Lernprozess geteilt wird und beide Seiten voneinander profitieren.
Mit seiner Studie hat Hattie die Bildungswelt in den 2010er Jahren aufgerüttelt. Wie so oft bei Studien, wird auch diese Studie manchmal aus dem Kontext herausgerissen oder fehlinterpretiert. Meine persönliche Meinung ist, dass diese Studie ein umfassendes und hilfreiches Werk ist, welches eine Übersicht über die Wirksamkeit und den Einfluss von verschiedenen Faktoren in Bezug auf die Schüler*innenleistung ermöglicht. Sie bietet eine Orientierung, mehr aber auch nicht.
*In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf die Lehrer*innenrolle, da diese auch im Studium die meiste Aufmerksamkeit erhält. Doch wenn ich andere Bereiche noch näher eingehen soll, schreib mir gerne, worüber du mehr erfahren möchtest.