Vielleicht hast du schon einmal von dem folgenden Phänomen gehört: Je mehr Menschen Zeugen eines Vorfalls werden, desto unwahrscheinlicher ist es, dass jemand eingreift. Alle schauen, alle wissen, dass etwas getan werden müsste und dennoch reagiert niemand. Die Psychologie nennt das den Bystander-Effekt. Er gilt als klassisches Beispiel für Verantwortungsdiffusion. Die Verantwortung wird so lange auf viele Schultern verteilt, bis sich letztendlich niemand mehr zuständig fühlt. Dieses Prinzip wirkt nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen. Beim Klimawandel beispielsweise schieben Staaten die Verantwortung gerne hin und her. Alle wissen eigentlich, dass etwas passieren muss – doch solange alle auf die anderen zeigen, bewegt sich wenig.
Auch das deutsche Bildungssystem ist ein Paradebeispiel für Verantwortungsdiffusion, was vermutlich einer der Hauptgründe ist, warum sich so wenig verändert. Der Bund spielt im Schulbereich fast keine Rolle, weil Bildung in Deutschland Sache der Länder ist. Zwar unterstützt er einzelne Projekte – etwa zur Digitalisierung oder beim Ausbau von Ganztagsschulen –, doch die eigentliche Entscheidungsmacht liegt bei den Bundesländern. Dort werden Lehrpläne entwickelt, Schularten festgelegt und Lehrkräfte eingestellt. Gleichzeitig sind auch die Kommunen stark eingebunden, denn sie tragen die Verantwortung für die Schulgebäude, die Ausstattung und oft auch für das nicht-pädagogische Personal. Auch die Kultusministerkonferenz mischt mit, deren Beschlüsse jedoch nicht rechtlich bindend sind und von den Bundesländern in das jeweilige Schulrecht übertragen werden müssen. Schließlich haben die Schulen selbst ebenfalls Gestaltungsspielräume, zum Beispiel bei der Umsetzung von Projekten oder der Schwerpunktsetzung im Schulprofil.
Das führt dazu, dass Verantwortung auf vielen Schultern verteilt ist: Bund, Länder, Kommunen und Schulen spielen jeweils eine Rolle. Das führt dazu, dass sich oft niemand wirklich zuständig fühlt, das große Ganze im Blick zu behalten. Genau daraus entsteht die Verantwortungsdiffusion, die Veränderungen im Bildungssystem häufig ausbremst.
Ich denke, dass umfassende und ganzheitliche Reformen nur gelingen, wenn nicht bloß engagierte Lehrkräfte, Schulleitungen oder Eltern vorangehen, sondern auch Länder, Kommunen und Ministerien gemeinsam Verantwortung übernehmen. In der Realität passiert genau das oft nicht. Statt dass Veränderung vorangetrieben wird, lähmt die Verantwortungsdiffusion das System. Was entsteht, ist Stillstand – und ein Bildungssystem, das sich selbst ausbremst.
Was bedeutet eigentlich Verantwortungsdiffusion?
