Vielleicht hattest du auch schon mal den Gedanken: Inklusion so ein breites Thema und hat so viele Facetten, man kann es eigentlich nur falsch machen. Die Professorin für Sonderpädagogik unter Berücksichtigung inklusiver Bildungsprozesse, Mai Anh Boger, hat dafür eine Theorie entwickelt: das Trilemma der Inklusion. Inklusion wird in diesem Kontext weit gefasst. Sie wird nicht nur in der Schul-, Integrations- und Sonderpädagogik verortet, sondern auch in den Gender Studies, Black Studies, Postkolonialen Studien und weiteren Forschungsbereichen (Boger, 2017).
Die drei Dimensionen des Trilemmas
Das Trilemma umfasst drei Bereiche, bei denen immer jeweils zwei zusammen den dritten Bereich ausschließen. Die Bereiche sind Empowerment, Normalisierung und Dekonstruktion.
Empowerment bedeutet Selbstermächtigung – also das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Möglichkeit, Entscheidungen selbst zu treffen. Unterstützung von außen kann darin bestehen, Freiräume zu schaffen, zu ermutigen und Menschen handlungsfähig zu machen.
Normalisierung beschreibt eine Haltung, die Unterschiede nicht in den Vordergrund stellt, sondern als selbstverständlichen Teil des Miteinanders versteht. Ziel ist es, dass diskriminierte Menschen gleichberechtigt am ‚normalen‘ Leben teilnehmen können.
Dekonstruktion heißt, Unterschiede nicht unter den Teppich zu kehren, sondern sie zu benennen und ernst zu nehmen. So können wir unsere Sicht auf Behinderung verändern und Stereotype Stück für Stück auflösen.

Die Spannungen des Trilemmas
Das Trilemma zeigt: Es können immer nur zwei der drei Bereiche gleichzeitig wirken, während der dritte in den Hintergrund rückt. Alle drei sind wichtig – doch zusammen geraten sie unweigerlich in einen Konflikt:
Empowerment + Normalisierung: Menschen werden gestärkt und können ‚normal’ teilnehmen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass sie an bestehende Normen angepasst werden sollen, statt die Normen selbst zu hinterfragen.
Normalisierung + Dekonstruktion: Systeme werden für alle geöffnet und Normen infrage gestellt. Einzelne Menschen erhalten jedoch möglicherweise nicht die individuelle Unterstützung, die sie benötigen, um über sich hinauszuwachsen.
Dekonstruktion + Empowerment: Menschen werden gestärkt und Besonderheiten anerkannt. Aber das gemeinsame ‚normale‘ Leben in bestehenden Strukturen (Schule, Arbeit, etc.) kann schwierig sein.
Am Beispiel einer Inklusiven Schule kann das konkret bedeuten:
Bei Empowerment und Normalisierung werden Schüler*innen gestärkt und als Teil der Klasse anerkannt. Gleichzeitig kann von ihnen erwartet werden, sich den Normen anzupassen – ihre besonderen Bedürfnisse geraten dann leicht aus dem Blick. Bei Normalisierung und Dekonstruktion ist der Zugang zu inklusiven Schulen vorhanden, doch Schüler*innen werden in ihren Kompetenzen nicht ausreichend gefördert und laufen eher im Unterricht mit. Bei letzterem Szenario, Dekonstruktion und Empowerment werden die Besonderheiten anerkannt und die Schüler*innen bestärkt. Allerdings werden sie in eine Sonderrolle gehoben und nicht als Teil der Normalität anerkannt.
Ich selbst habe bei der Beschäftigung mit dem Trilemma gemerkt, dass ich in meiner Praxis oft versuchte, alle drei Bereiche abzudecken – und immer wieder an Grenzen stieß, die ich bisher nicht benennen konnte. Ich habe mich oft gefragt: Warum geht nicht alles? Ich bemerkte die Unstimmigkeit, konnte sie aber nicht erklären. Vermutlich ordne ich meine Perspektive oft bei Dekonstruktion und Empowerment ein. Dadurch vergesse ich die Normalisierung, die im Alltag jedoch enorm wichtig ist.
Die Theorie ist ein Denkanstoß für alle, die sich in der Theorie oder Praxis mit Inklusion auseinandersetzen. Es geht darum sich bewusst zu werden, dass es ganz verschiedene Perspektiven auf Inklusion gibt, die immer auch mit der eigenen Ausgangslage zu tun haben. Ja, du wirst es vermutlich nie allen recht machen könnten. Aber wenn du dir dieser Widersprüche bewusst wirst und sie reflektierst, kannst du Inklusion aktiv und reflektiert voranbringen.
Literatur:
Boger, M. (2017). Theorien der Inklusion – eine Übersicht. Universität Bielefeld. https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/413/317
