Pädagogik aus Island: Die Hjallastefnan-Methode

Island zählt heute zu einem der gleichberechtigsten Länder der Welt. Nirgendwo ist der Frauenanteil in politischen Ämtern höher, nirgendwo ist der Gender Pay Gap niedriger. Das liegt unter anderem an der großen Frauenbewegung, die am 24.10.1975 ihren Höhepunkt hatte. An diesem Tag legten 97% aller isländischen Frauen ihre Arbeit nieder und gingen für mehr Gleichberechtigung auf die Straße. Männer bezeichneten den Tag als „schwarzen Freitag“, denn sie mussten feststellen, wie viel im privaten als auch im beruflichen Leben von Frauen getragen wird. Nach diesem Protest änderte sich viel und bis heute gehen die isländischen Frauen am 24.10. für Gleichberechtigung auf die Straße.
Die Hjallastefnan Pädagogik entstand in einem gesellschaftlichen Klima, das stark von der isländischen Frauenbewegung geprägt war. Es handelt sich dabei um ein pädagogisches Konzept aus Island, das von Margrét Pála Ólafsdóttir im Jahr 1989 entwickelt wurde. Die Methode wurde ursprünglich für Vorschulen entwickelt, die in Island sehr verbreitet sind. Inzwischen gibt es auch ein paar Grundschulen, die diese Methode als Grundlage nutzen.
Die Methode basiert auf sechs Prinzipien, die dabei helfen sollen sich auf die tägliche Praxis zu fokussieren.
Diese lauten:
Kinder und Eltern – erwarte von verschiedenen Kindern verschiedene Bedürfnisse
Mitarbeiter*innen – Fördere positives Verhalten
Umwelt – Biete jedem Kind eine passende Lernumgebung
Material – Fördere die Kreativität und Imagination von Kindern
Natur – Lehre Kinder die Natur zu lieben
Gesellschaft – Lehre Kinder einen positiven und fürsorglichen Umgang
Das Ziel der Prinzipien ist, dass jedes Kind alle Möglichkeiten der Welt haben soll, unabhängig des Geschlechts (Ólafsdóttir, 2011).
Mädchen und Jungen in dieser Pädagogik einen Großteil des Tages getrennt voneinander gefördert. Es besteht die Überzeugung, dass Mädchen und Jungen unterschiedliche Vorgehensweisen in der Erziehung brauchen und frei von gesellschaftlichen Rollenerwartung lernen sollen. Es gibt unterschiedliche Curricula und Stundenpläne für Mädchen und Jungen. Nur für ausgewählte Aktivitäten werden Mädchen und Jungen gemischt.
Die Pädagogik ist darauf ausgelegt, dass alles seine Ordnung hat. Durch Markierungen und Bilder wissen Kinder und Erwachsene genau, wo welcher Gegenstand hingehört. Selbst auf dem Boden sind Pfeile zu den Räumen, um zu symbolisieren auf welcher Seite die Kinder in welche Richtung laufen sollen. Eine klare Tagesstruktur vermittelt den Kindern Orientierung, Rücksichtnahme und höfliches Verhalten im Alltag. Kreativität ist ebenfalls ein wichtiger Baustein. Um die Kinder nicht abzulenken gibt es keine Dekorationen an den Wänden.
Ein typischer Tag in einer Hjallastefnan Vorschule sieht in etwa so aus:
8:00 – 9:00 Ankommen und Frühstück
9:00 – 9:15 Morgenkreis
9:15 – 9:30 (geschlechtergemischte) Gruppenzeit
10:30 – 11:45 Freies Spielen
11:45 – 12:00 Mittagskreis
12:00 – 12:30 Mittagessen
12:30 – 14:00 (geschlechtergemischte) Gruppenzeit
14:00 – 15:00 Freies Spielen
15:00 – 16:30 Nachmittagssnack, abholen

Der Kern der pädagogischen Arbeit besteht laut Ólafsdóttir darin, sich und sein Handeln ständig zu reflektieren und zu hinterfragen. Außerdem sollen Pädagoginnen Herausforderungen mit Kreativität und Strukturiertheit begegnen. Die Pädagogik scheint sich auf den ersten Blick gar nicht so sehr von anderen Strömungen der Reformpädagogik zu unterscheiden. Die Trennung von Geschlechtern sticht dabei jedoch heraus und wird kontrovers diskutiert. Befürworterinnen loben die Geschlechtersensibilität und den differenzierten Umgang mit den Bedürfnissen. Gegner*innen kritisieren die Stereotypisierung durch die Geschlechtertrennung und den damit einhergehenden vorurteilsbehafteten Umgang mit den Kindern.
Klar ist, nicht jeder Junge ist laut und draufgängerisch, nicht jedes Mädchen ist sensibel und zurückhaltend. Aber wir alle werden durch unsere Umwelt und unsere Sozialisation geprägt. Wir alle haben unterschiedliche Bedürfnisse und bringen eigene Päckchen mit. Wie bei allen pädagogischen Richtungen gibt es vermutlich Kinder, die in diesem System sehr gut zurecht kommen, die darin aufgehen und sich wohl fühlen und andere, die dies nicht tun. Wir Menschen sind zu individuell, um eine pauschale Aussage über die eine ‚richtige Pädagogik‘ treffen zu können.
Hjallastefnan ist ein interessantes Beispiel dafür, wie Erziehung und Gesellschaft einander spiegeln. Das Konzept will Kindern Wege eröffnen, jenseits fester Rollenerwartungen zu lernen – und steht gleichzeitig in der Kritik, neue Grenzen zu ziehen. Vielleicht liegt die eigentliche Stärke nicht in der einen ‚richtigen‘ Methode, sondern in der Bereitschaft, pädagogisches Handeln immer wieder neu zu hinterfragen.

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